Everybody's fucked in their own special way

Sonntag, 8. Januar 2017

Das Publikum, um ein Spektakel betrogen

Das liegt auch schon einige Jahrzehnte zurück, von Zeit zu Zeit gibt es Anlass sich daran zu erinnern. 

Am Heimatort hatte ich eine Zeitlang am Samstag Dienst im heimischen Jugendzentrum, einem Kellerraum im Gewerbegebiet ohne funktionierende Toilette, wo man Bier trank und Punk hörte. Das hieß am Samstagnachmittag erst einmal aufwischen, alles vorbereiten, eine Kiste mit Schallplatten mitnehmen und dann ausschenken und auflegen. Damals machte ich das zusammen mit W., der Sänger der ältesten Punkband im Ort und der Chef war. 

Eigentlich ein ganz normaler Samstagabend, doch plötzlich Unruhe. Ein Trupp Rocker aus K. kam zur Tür hinein, ein paar Typen mit Kutten und ihre Freundinnen. Sie kauften ein paar Bier, aber allen war klar: das gibt Ärger. Rocker aus K. kamen nur, um Ärger zu machen. Das hieß, dass sie eine Zeitlang rumsitzen würden, bis sie irgendetwas fanden, was Anlass für eine Prügelei sein könnte. Und ein Anlass fand sich immer. Alle saßen da, die Punkmusik dröhnte, da fing der Chef der Rocker an, mit W. zu pöbeln. Eine größere Schlägerei wäre ungünstig gewesen, die Rocker waren normalerweise bewaffnet und hatten insgesamt mehr Prügelerfahrung als die örtlichen Punks, nicht zuletzt, da sie jedes Wochenende übten. Irgendwann war es dann soweit, der Rockerchef und W. gingen raus und schlugen sich, die anderen Rocker warteten nur darauf, das Ganze in eine große Schlägerei ausarten zu lassen. Ich machte die Musik erstmal aus, wir sammelten sicherheitshalber die leeren Flaschen ein und warteten. Nach fünf Minuten kamen die beiden wieder, beide leicht blutend, der Rockerchef schien die Lust am Prügeln verloren zu haben, die Sache schien erst einmal erledigt zu sein. Der Rockerchef bestand allerdings noch darauf, weiter hier sein Bier zu trinken. Ich machte die Musik wieder an, zog eine Reggaeplatte heraus, die langsam vor sich hinblubberte, danach quasi in Endlosschleife die melancholischen Pogues, der langsame Walzer "A pair of brown eyes". Bloß nichts Lautes, bloß nichts Aggressives, damit nicht doch noch die große Prügelei kommt. 

Insgesamt kein besonders spektakulärer Abend, das gab es leider häufiger. Eines werde ich aber nie vergessen: Einer von den Rockerfrauen war das bisschen Geprügel deutlich zu wenig. Sie saß direkt an der Theke, quasi neben dem Plattenspieler und ihr war vollkommen klar, dass die lahme Musik dazu führen würde, dass der Abend friedlich bleibt. Sie forderte dauernd von mir, dass ich doch mal was anderes auflegen sollte, trat mit ihrem Fuß gegen die Theke, dass die Plattennadel weitersprang, beschimpfte mich dann am Schluss als Feigling und Schlappschwanz. Nützte nichts, sie musste weiter Reggae hören. Ihre Augen glitzerten vor Zorn und ich glaube, ich habe an diesem Abend zum ersten Mal in den Augen eines anderen Blutdurst gesehen. Sie hätte gerne noch weiteres Blut, weiteres Leid, weitere Action gesehen. An diesem Abend wurde sie enttäuscht, der Rockertrupp zog ohne weitere Zwischenfälle ab.   

17 Kommentare:

  1. Alle anderen Enttäuschungen sind gering im Vergleich zu denen,
    die wir an uns selber erleben.

    Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
    (1830 - 1916)

    ... tja !!! *seufz*

    *allesGUTEweiterhinIHNENundIhrenvielenmultiplenPersönlichkeitenwünsch*

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    1. Ich wäre doch schon mit einer Persönlichkeit zufrieden...

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  2. Die Räume und die Menschen waren irgendwie ähnlich - viele Erinnerungen wurden geweckt beim Lesen. Bei uns trat eine Rockerbraut einem stillen, braven Jungen mit Schwung in den Unterleib, von weiterem konnte ich sie abhalten. Ein Zivi verlor einen Zahn, den Pfarrer rettete ich vor dem K.O.- heute scheint mir das alles so weit weg. Auch die Geschichte mit den Schallplatten, z.T. meine eigenen, immer wurde etwas geklaut bei Hektik, bei mir u.a. Beatles mit Tony Sheridan im Hamberger Starclub. Kirchliche Jugendarbeit war ganz schön stressig, auch damals.

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    1. Wenn man meine Schallplattensammlung auswringen würde, kämen mehrere Liter Bier raus, die damals drüber verschüttet wurden.

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  3. Wir hatten auf H. auch einen Jugendkeller. So unserer Zeit gab es dort auch immer Punk. Ein paar Jahre später waren wir noch einmal dort, einer der neuen Jugendlichen sah drehte sich um und sagte zu seinem Kumpel "Geh da bloß nicht rein, da sitzen so Komische".

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    1. Das kenne ich auch noch gut. Wahrscheinlich würde ich aber heute auch nicht mehr in eine Kneipe gehen, die so aussieht wie unser damaliges Jugendzentrum. Als die zweite Poguesplatte rauskam, war es große Mode, sich ein Stuhlbein rauszubrechen, mit dem man dann Luftgitarre spielte. Nach solchen Abenden aufzuräumen, hieß erstmal eimerweise Scherben aufzusammeln und dann nach den letzten brauchbaren Sesseln Ausschau zu halten.

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    2. Das mit den Stuhbeinen kenne ich nicht. Da habe ich wohl etwas verpasst.

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  4. Blutdurst und Reggae geht schwer zusammen. Kluger Schachzug.

    Interessant, dass es eine Rockerfrau war, die sich um das Ereignis betrogen fühlte. Was machten die Rockermänner mit ihrer ins Leere gelaufenen Energie. Zum Reggae moshen? Einen Hund auf der Straße treten? Sich bis zur Brechgrenze volllaufen lassen?
    Oder hat die fällige Schlägerei mit einer zeitlichen Verzögerung und dafür mit noch mehr Verve stattgefunden?


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    1. Die Frau, die an der Theke saß und mich direkt angiftete, ist das, was mir von dem Abend noch am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist. Der Rest verschwimmt in der Erinnerung vieler Abende, wo man schnell verschwand, weil die Rocker, die Skins oder einfach nur andere Deppen kamen (schnell verschwinden war meistens die beste Option). Die Rocker hatten, glaube ich, keine rechte Lust mehr, vor allem, weil W. kein ganz so leichter Gegner war, wie sie gedacht hatten. Das war bei denen auch eher so eine Geschichte, dass man die Ehre verteidigen musste. Die Gefahr war also, dass in der verbleibenden Zeit noch irgendetwas passieren könnte, was nach dem Rockerkodex mit einer Schlägerei geahndet werden hätte müssen. Deswegen der Versuch, alles deeskalierend zu gestalten. Vielleicht sind die danach noch in ihre Stammdisko "Waldfrieden" gefahren, da hätten sie dann sicher noch jemand gefunden.

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    2. "Waldfrieden" als Stammdisko der Rocker ist auch schön selbstironisch.

      Gleichnisse, überall Gleichnisse. :)

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    3. Die Welt ist ein Rorschach-Test (inoffizielles Blogmotto). Wer Bedeutung sucht, wird sie allenortens finden....
      (Ich weiß gar nicht, ob es eine Rockerdisko oder einfach eine Bauerndisko war. Das war bei uns im Wesentlichen dasselbe, da die Landjugend mehrheitlich Heavy Metal hörte. Waldfrieden hieß sie, glaub ich, weil sie irgendwo am Waldrand lag.) Aber nach drei Jahrzehnten sind die Erinnerungen auch nicht mehr so verlässlich.

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    4. Die Rocker-Stammdisco "Waldfrieden". Darf der Leser an dieser Stelle weitere Anekdoten hören? Oder muss ich mir die selbst ausdenken?

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    5. Besteht denn Interesse an diesem alten Käse? Aus erzieherischen Gründen könnte man da und dort mal eine Geschichte ausgraben...

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    6. waldfrieden gibts noch, wahrscheinlich immer noch typische gummistiefel disco. da konnte man gar nicht hingehen, nicht nur wegen der rocker. wer nicht zu einem der bauernbubenclans gehörte kriegte dort von beiden seiten auf die glocke. und stimmt schon übler ort und jedes wochenende blutige nasen. bau ruhig ab und zu was ein, zu den rockern würden mir auch noch ein paar anekdoten einfallen.

      grüße

      michali

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    7. Irgendwie ironisch, dass du dich noch besser erinnerst als ich....
      Warst du an dem Abend damals auch im JZ?

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    8. was heißt hier irgendwie ironisch? na ja kann sein daß ich da war, wahrscheinlich sogar, kann mich aber nicht entsinnen.
      grüße
      michali

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