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Samstag, 10. Juni 2023

Gedenken

 Plötzlich ist es wieder heiß und die Stadt ist noch grün. Es ist Anfang Juni und ich gehe zur Mittagspause zum Rewe am Humboldthafen, kaufe mir eine Leberkäsesemmel, setze mich aber nicht auf eine Bank ans Wasser wie sonst, sondern gehe zurück, ein Stück am Berlin-Spandauer-Scifffahrtskanal entlang, zum Invalidenfriedhof, der grün und schattig ist. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich dort entdeckt, dass es Leute gibt, die Reinhard Heydrich zum Todestag Blumen und Kerzen auf das nicht markierte Grab stellen. Und wenig hat mir mehr geholfen zu verstehen, was gerade passiert, als zu wissen, dass es in Berlin Mitte Leute gibt, die Reinhard Heydrich Blumen aufs nicht markierte Grab legen. Vielleicht noch, dass das vielen anderen inzwischen egal ist. 

Ich setze mich auf eine Bank neben dem Ausgang zur Scharnhorststraße und esse meine Semmel. Über den Friedhof gehen Hundebesitzer und Büroangestellte in angeregter Unterhaltung. Ich habe einen Druck auf der Brust, weil ich sehe, dass auf dem Heydrich-Stein etwas liegt. Ich kann nicht erkennen, was es ist, aber keine Blumen, die liegen auf dem Nazigrab schräg davor. Eine Nebelkrähe fliegt vorbei, ich werfe ihr ein Stück Semmel zu. Wie immer schreckt sie erst zurück und holt sich dann das Stück. Das wiederholen wir ein paar Mal. Obwohl es mir graust, muss ich jetzt aufstehen und nachsehen, was auf dem Heydrich-Grab liegt. Ich komme näher, sehe es ist ein weißer Stein, ähnlich wie die, die man auf jüdische Gräber legt. Tatsächlich ist auch ein Davidstern darauf gemalt, daneben die Worte: Das ist dein Tor zur Hölle. 

Erleichtert drehe ich um, werfe meine Semmeltüte zum zweiten Mal in den Mülleimer, weil die Nebelkrähe sie inzwischen herausgezogen hat, winke der Krähe, und verlasse den Friedhof zur Scharnhorststraße.

Noch ist nicht alles verloren.


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