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Samstag, 24. Juni 2017

Der Spatz in der Hand

Ich sitze auf der Terrasse und versuche, die verschiedenen Vögel, die unseren Kirschbaum plündern, zu unterscheiden. Die Tauben sind einfach, auch die Spatzen, ansonsten ist Ornithologie nicht das richtige für jemand, der ohne Brille praktisch nichts mehr sieht. Irgendetwas Kleines mit Schnabel - vielleicht eine Grasmücke. Während ich rätsele, macht es auf einmal einen dumpfen Schlag, gefolgt von zwei raschelnden Aufprallgeräuschen. Ein Vogel ist wohl gegen ein Fenster im ersten Stock geflogen, dann in den Feigenbaum gefallen, noch einmal abgerutscht. Ich gehe schnell hin, sehe einen kleinen Spatz, der seine Flügel spreizt, dass er nicht zwischen den Zweigen abrutscht. Noch jemand hat den Zwischenfall bemerkt: Die Katze steht schon unter der Feige und sieht interessiert nach oben. 

Ich nehme schnell den kleinen Spatz in die Hand. Er hat offensichtlich Schwierigkeiten, seine Flügel wieder einzuklappen, aber es gelingt. Gebrochen ist anscheinend nichts. Ich berge ihn in meiner Hand, er zittert und öffnet den Schnabel, ohne einen Laut hervorzubringen. Von seinem Abenteuer hat er wohl einen Schock und Schmerzen. Nach einigen Minuten wird der Vogel ruhiger. Er bewegt sich zögernd, es scheint alles noch intakt zu sein. Wegfliegen will er aber noch nicht. Er bleibt in meiner Hand, krabbelt ein bisschen darin herum. Ich bringe ihm ein bisschen Wasser und Rosinenstückchen, aber Hunger hat er nicht. Währenddessen schleicht die Katze um uns herum, ich scheuche sie immer wieder weg. Er scheint nicht schwer verletzt zu sein, aber vor allem Ruhe zu brauchen. Ich beschließe, ihm ein sicheres Plätzchen für die Nacht zu suchen und dann am nächsten Tag gegebenenfalls zu einer Vogelambulanz zu fahren. Der Kleine hüpft jetzt schon ein bisschen auf den Terrassenmöbeln herum. Ganz schlechte Idee, die Katze lässt ihn nicht aus den Augen. Ich bereite ihm ein Lager in unserem Gewächshaus, dort kommen die Katzen nicht hinein. Ich mache gleichzeitig das Oberlicht weit auf, dass er auch rausfliegen kann, wenn er will. Von außen sehe ich, wie er immer noch ein bisschen zittert. 

Nach einer halben Stunde komme ich noch einmal, um ihm ein bisschen Wasser hinzustellen. Sein Platz ist leer, alarmiert suche ich den Boden ab, ob er heruntergefallen ist. Aber er ist weg: er hat sich offenbar erholt und ist wieder losgeflogen. Ich hoffe, er passt jetzt besser auf sich auf.

11 Kommentare:

  1. O je, der hatte bestimmt eine Gehirnerschütterung! Bei uns ist das mal im Winter mit einem Dompfaff passiert. Auch so ein zitterndes Häufchen Elend, er hat aber den Flügel nicht wieder angelegt, sondern hängen lassen. Wir den in alten Wellensittichkäfig gesteckt und zum Tierarzt gefahren. Der diagnostizierte dann eine gewaltige Gehirnerschütterung und einen gestauchten Flügel (nicht gebrochen!). Er schlug vor, ihn über den restlichen Winter drinnen im Käfig aufzupäppeln und er denkt im Frühjahr wird er sicher wieder fit sein. Haben wir gemacht. Das war ein lustiger Geselle! Im Frühjahr haben wir ihm Zweige vom Kirschbaum mit den jungen Knospen zum Fressen gegeben und dann hat er angefangen zu trillilieren! Für uns ein Zeichen ihn freizulassen.

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    1. Das Spätzchen war ohnehin so winzig. Aber der brauchte einfach nur ein bisschen Ruhe und Schutz vor den Katzen. Einen Dompfaff im Haus stelle ich mir auch nett vor.

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  2. Wer auch immer ein einziges Leben rettet, der ist, als ob er die ganze Welt gerettet hätte

    Babylonischer Talmud

    ...die Katzen kennen da nix, erst ein bischen damit spielen und wenn Hunger... dann fressen (ړײ)

    *♥seufzendSCHÖNeGeschichten*

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  3. Freue mich, weil der Spatz Hilfe erfuhr. Die Katzen sind einfach Jagdtiere, wir können und sollten ihnen das nicht abgewöhnen,auch nicht mit viel Futter.
    Ist Natur, z.B. im Gegensatz zu einem Fenster, gegen das der Vogel flog. Aber wir brauchen Fenster, und Auto, und...

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    1. Ohne Auto kann man sich ja in Berlin gut vorstellen. Die Zeiten ohne Fenster möchte man dagegen nicht nachmachen...

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  4. toll, herr ackerbau. erich fried schrieb in einem gedicht, dass alle geretteten zu seinem begräbnis kommen werden. diese vorstellung gefällt mir sehr. ich bin gerade eher auf der mörderseite, rette nur wespen und hummeln aus dem haus. und wieder einen großen vogel (drossel?) angefressen nach der katze entsorgt.

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    1. Dann kommt bei mir also ein Spatz (wenn er es länger aushält als ich...)
      Aber das ist tatsächlichlich eine schöne Vorstellung.

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  5. Wie süß. Toll, dass Du ihn retten konntest. So eine Begegnung mit einem Fenster bringt die ganz schön ins Taumeln, ich hatte auch schon mal so ein Zwitschervieh danach aufgepäppelt.
    Weil ich als vielbeschäftigte Person aber nicht ständig Vögel pflegen kann, putze ich seitdem einfach keine Fenster mehr, total vogelschutzfreundlich! (Und eine super Ausrede.)

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    1. An den glänzenden Fenstern kann's bei uns nicht gelegen haben... wir sind nämlich in diesem Sinne auch praktisch das ganze Jahr vogelschutzfreundlich.

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