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Donnerstag, 4. April 2019

Hin und zurück


Ich stehe eine halbe Stunde früher auf als sonst, dusche, bereite wie gewohnt das Frühstück vor und füttere die eine Katze, die sich blicken lässt. Ich gehe noch vor 6 Uhr aus dem Haus, wegen der Zeitumstellung ist es noch dunkel. 6 Uhr ist eine magische Grenze in Pankow, dann beginnt der normale Flugbetrieb wieder und der Tag wird alle paar Minuten vom Geräusch landender oder startender Flugzeuge durchfurcht. Aber jetzt ist noch alles ruhig, nein, nicht ruhig, weil auf dem Baum vor dem Haus eine Amsel sitzt und singt. Da unser Schlafzimmer auf der anderen Seite ist, habe ich sie bislang noch nicht in der Früh gehört. Das Lied ist klar und kunstvoll, mit einigen Schnörkeln, es breitet sich aus durch die kalte Luft, als Antwort hört man von links und rechts aus der Entfernung die anderen Amseln, ich denke mal, dass auf etwa 300 m Strecke etwa drei Amseln kommen. Weil man sonst gar nichts anderes hört, habe ich plötzlich eine Vorstellung davon, wie die Karte, die eine Amsel zeichnen würde, aussähe. Die Welt teilt sich in die Amselreviere auf, die durch den Schall ihrer Lieder begrenzt werden. Ich weiß nicht, welche Amsel da singt, es ist auch zu dunkel, um genaueres zu sehen, ich hoffe nur, dass es die gleiche ist, die am Nachmittag auch in unserem Garten singt. Ich werde hoffentlich mehr von ihr hören und vielleicht dann auch sie am Lied erkennen. 


Als ich mich vom Haus entferne, komme ich in den Bannkreis eines der antwortenden Amslerichen. Der muss noch gewaltig üben, das ist nur uninspiriertes Gepfeife (möglicherweise bin ich etwas zugunsten des Hausamslerichs eingenommen).

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Das Publikum in der 6-Uhr-S-Bahn ist etwas anders als das eine Stunde später, verhältnismäßig viele Passagiere schlafen. Ich bin zwar auch müde, aber eine Fahrt zum Hauptbahnhof ist zu kurz für ein Nickerchen. 


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Am Hauptbahnhof wartet eine Gruppe von drei Männern auf den Zug, die sich über eine Begebenheit in der Arbeit unterhalten. Offensichtlich gab es eine Begebenheit zwischen Walter und Dieter. Die Unterhaltung folgt einem seltsamen Muster, jeder sagt einen Satz, in dem sowohl Walter und Dieter vorkommen, der nächste antwortet mit einem ebensolchen Satz, immer wieder, immer weiter. Walter wollte Dieter das vor der Besprechung wohl noch selbst sagen. Ach, deswegen war Dieter dann später so überrascht, von dem was Walter gemacht hatte? Ich komme nicht dahinter, was eigentlich vorgefallen ist, das Ganze erinnert mich an sozialkritische Literatur aus den 70ern, die wir in der Schule lesen mussten und die ich auch nicht verstanden habe.


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Die Zugfahrt ereignislos, genügend Platz, keine Verspätung. Wir fahren an einem alten Bahnhof vorbei, auf dem als Ort „Müssen“ steht. Wie schon häufiger komme ich mir vor wie jemand, den man unwissend in eine Kunstaktion eingesperrt hat.


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Ich habe genügend Zeit, deswegen gehe ich vom Hauptbahnhof zu dem Tagungsort zu Fuß. Da es mal wieder um Digitalisierung geht, suche ich mir den Weg anhand eines Kartenausdrucks, ohne Navi. Nach etwa 15 Minuten stehe ich wieder am Hauptbahnhof, meine Orientierung ist dann anscheinend doch nicht so gut. Aber das macht nichts, ich bin an vielen Schaufenstern vorbeigekommen, die gerade umdekoriert wurden. Es ist ein interessanter Anblick, wenn Leute mit Teilen zerlegter Schaufensterpuppen im Schaufenster knien und gedankenverloren Dinge zusammenschrauben. Kurz überlege ich, ob ich ein Foto machen sollte, aber irgendwie wäre mir das vorgekommen wie in ein Wohnzimmer zu fotografieren.


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Die unsäglichen Ornamente, die verdeckt werden müssen, damit die Passanten beim Anblick nicht dem Wahnsinn verfallen, kann ich allerdings fotografieren.


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Natürlich auch den qualmenden Mülleimer (den Geruch verbrannter Filter bitte dazu denken). So sind sie, die Hanseaten!


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Heutiges Rebellenlevel: Mit Krawatte in die Digitalisierungssitzung (wenn einer disruptiv kann, dann wohl ich!). Innovative Treffen heißt, dass man keine richtigen Stühle bekommt. Innovative Kreuzschmerzen.


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Alpdrucksatz des Tages: „Der Customer muss wieder in den Driver’s Seat der Customer Journey gesetzt werden.“


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Durch den sanften hanseatischen Regen geht es wieder zurück zum Hauptbahnhof; mein Zug hat Verspätung und beinahe hätte ich gar nicht gemerkt, dass er schnell auf ein neues Gleis verlegt wurde. Im Zug bastele ich noch ein Papier fertig, das ich eigentlich während der Sitzung schreiben wollte, dort aber nicht konnte, weil es ja noch nicht einmal einen Tisch gab.

(Das scheint die Hamburger Sonne zu sein.)


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Zurück in Berlin bin ich auf einmal wieder overdressed. Die Sonne scheint und ich überlege, den Boden des Bahnhofvorplatzes zu küssen, aber ich bin ja nicht der Papst. Vor dem Nachbarhaus sehe ich einen Amselhahn, der gerade ein paar Würmer aus dem Boden gezogen hat. Er schaut mich kritisch an. Ob es der Sänger von heute früh ist?

8 Kommentare:

  1. DANKE ✿
    FRÜHSTÜCKS-LEKTÜRE ... ♥ wie sie mir gefällt (ړײ)
    WAS so, ein ganzer Tag - doch - für Geschichten zu erzählen hat !!! *zwitscher*

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    1. Die besten Geschichten des Tages bleiben wie immer geheim.

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  2. Amseln zum Abschied am Morgen und zum Willkommen am Abend ist doch super! Das ist "heimeliger" als der Bahnhofsvorplatz :-)
    Ich werde am Wochenende zu einem Fortbildungskongress in Villingen-Schwenningen sein: oben im Grenzgebiet zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb auf über 700m. Und heute morgen hat es hier bei uns auf 400 m Höhe angefangen zu schneien! Also sei froh um das bisschen Regen in Hamburg! ;-)

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  3. Wieder mal eine Dienstreise- wunderbar. Wer sind Dieter und Walter, sie scheinen wichtig zu sein. Und wegen der mangelnden Sitzgelegenheiten bei der Arbeit würde ich mich beschweren.
    Überhaupt: Irgendwelche jungen Designer muten uns manchmal als Fortschritt Dinge zu, die man sich nicht vorstellen konnte.

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    1. Die unbequemen Stühle sind Teil des Startup-Ansatzes. Die Designer kann man nicht verantwortlich machen, die können auch nichts dafür, wenn Leute ihre Sitzungssäle mit Campingmöbeln vollstellen.

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  4. Ich wunder mich, wo der Costumer sich so rumtreibt... dass man ihn in den Drivers Seat bugsieren muss *grübel* ... Die Amseln beobachte und höre ich auch gerne!

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