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Mittwoch, 21. August 2019

Stories

I heard one earlier that shook me up
I heard one by accident and wish I hadn't
I heard one so many times couldn't care anymore (Minutemen)

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R. wohnte ein paar Straßen weiter, er war ein paar Wochen älter als ich. Als ich klein war, gingen wir oft mit seiner Familie zum Bergwandern. Er hatte zwei Brüder, bei ihm war immer etwas los. 

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Nach der Schule radelten wir öfter zu den Feldern und fingen Grashupfer. Ich weiß nicht mehr, warum wir das taten, wir haben die Tiere dann auch immer wieder freigelassen. Ich war immer sehr stolz darauf, dass ich Grashupfer fangen konnte, das ist nämlich gar nicht so einfach. R. nahm einmal einen in den Mund und aß ihn. Er meinte, es habe gar nicht schlecht geschmeckt, so wie Nüsse. 

Die Wiesen, wo wir Grashupfer gefangen haben, gibt es jetzt nicht mehr. Da stehen jetzt Häuser. 

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An Neujahr gingen wir immer spazieren und sammelten die Böller auf, die nicht losgegangen waren. Wir schnitten sie auf und packten das Schwarzpulver in andere Behälter. Wir waren ziemlich dumm damals. R.s Vater drehte sich selber Zigaretten und hatte deswegen leere Tabaksdosen. Wir packten das Schwarzpulver in die Tabaksdose, machten eine Lunte daran und zündeten das Ganze auf R.s Terrasse. Es tat einen großen Knall, die Explosion hatte einen Sprung in das Garagenfenster gedrückt. R.s Mutter kam raus und fragte, was wir machten. "Nichts", sagten wir. 

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Mit 13 trafen wir uns auf dem Spielplatz ums Eck. R. hatte unbemerkt aus dem Keller einen Kanister Apfelmost mit gebracht. Niemand schmeckte der saure Most, aber es musste ja getrunken werden. R. machte mit einem abgebrannten Streichholz Markierungen an den Kanister, die zeigen sollten, wie viel jeder trinken musste. Uns war allen schlecht danach. 

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Als wir 14 waren, fuhr ich mit R. zu unserem ersten Punkkonzert, im Jugendzentrum, ein paar Kilometer entfernt. Wir fuhren mit dem Fahrrad nebeneinander über die Feldwege. Ich machte einen Schlenker, wir stießen zusammen und fielen beide auf den Schotter. R. hatte sich die Brust aufgeschürft und blutete, ich hatte auch mehrere Schrammen. Wir fanden, dass das schon sehr nach Punk aussähe. Zu dem Konzert ging es eine schmale Treppe hinunter. Als ich herunterging, kam mir ein Punk mit Lederjacke und Nieten mit Widerhaken entgegen, eine davon verhängte sich bei mir im Oberarm. Er kam dann mit einem Feuerzeug und ich dachte ängstlich, dass man vielleicht bei den Punks solche Wunden gleich ausbrennt. Er wollte aber nur sehen, ob ich mich ernsthaft verletzt hatte.

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R. hatte ein Zimmer mit seinen zwei Brüdern. Einmal, als wir betrunken von einem Baggerseefest nach Hause geradelt waren, weckte er mitten in der Nacht seine Brüder, weil er meinte, er sei noch am Baggersee und müsse sein Fahrrad suchen.  

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Im Winter gab es nicht allzuviel Freizeitgestaltung. Wir saßen dann oft bei R. im Keller und tranken Bier und spielten Karten. Lupf oder Poker um Geld. Im Kassettenrekorder in Endlosschleife die zweite Tote Hosen-LP oder die Zwanzig schäumenden Stimmungshits. Nachts um eins, wenn alle schon angetrunken waren, kam dann meist ein Streit, was das bessere Blatt beim Poker war. Freundschaften zerbrachen an diesen Abenden, bis zur nächsten Woche, wenn man wieder zusammen saß. 

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Ab und zu kam K. auf Besuch, der mit seiner Mutter nach Schweden gezogen war. Ich gab ihm immer Geld mit, damit er für mich schwedische Punk-LPs mitbrachte. An einem kalten Januarabend tranken wir bei R. im Keller Bier, K. war dann nicht mehr in der Lage, alleine nach Hause zu gehen. Wir trugen ihn in die Stadt, auf der Suche nach der richtigen Hausnummer der Gartenstraße, in der seine Oma wohnen sollte. Erst spät merkten wir, dass es eigentlich die Margaretenstraße war. Der Transport wurde nicht dadurch erleichtet, dass K. immer behauptete, Ray Parker Jr. zu sein, und begann Ghostbusters zu singen. 
Jahrzehnte später hat mir R. dann erzählt, dass sich K. in Schweden erschossen hatte. 

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Als ich in der siebten Klasse war, besuchte mich R. einmal in der Schule, weil er an seiner Schule einen freien Tag hatte. Wir beschlossen, dass er sich im Englischunterricht neben mich setzen sollte und behaupten, er sei der neue Schüler, R. Schmied.  Unser Englischlehrer bemerkte ihn allerdings zuerst nicht, also ließ sich R. vom Stuhl fallen und stand laut schimpfend auf. Der Englischlehrer glaubte, dass er ein neuer Schüler sei, und man merkte ihm an, dass er sich Sorgen um diesen ungehobelten Jungen machte. R. war danach nie mehr bei uns, wir gaben aber bei der nächsten zu benotenden Hausarbeit für ihn eine vollkommen ungenügende Arbeit ab. Der Englischlehrer merkte den Schwindel erst, als er am Ende des Halbjahres den Klassenlehrer darauf ansprach, dass man sich um den Schüler Schmied doch Sorgen machen müsse bei seinen Leistungen. Offenbar hatte der Lehrer noch über die ganze Zeit mündliche Noten für Schmied eingetragen. Wir waren erschrocken, dass unser Scherz dann beinahe sehr empfindliche Folgen für den Lehrer gehabt hätte. Der Lehrer wurde dann ein paar Jahre später rausgeschmissen, weil er einen Stuhl auf einen Schüler geworfen hatte. R. wurde in Zukunft nur noch Schmied genannt, obwohl er ja gar nicht so hieß. 

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R. wurde Zimmermann, fast zwei Meter groß, mit einem breiten Kreuz. Einmal war er in Berlin und besuchte mich. Ich erklärte ihm, wie er von der S-Bahn Wollankstraße gehen musste, und wartete. Eine dreiviertel Stunde später kam der Anruf: Er war zunächst versehentlich Richtung Wedding gegangen, dann aber zu stur gewesen umzudrehen. 

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Wir haben ihn einmal besucht, in den kleinen Ort in der Nähe des Hügels, auf dem wir immer Schlitten fuhren. Wir grillten, unsere Jungen spielten miteinander. Die Berliner Kinder waren über den Geruch erstaunt, erst da fiel mir auf, dass sie natürlich nicht wissen, wie es auf einem Bauerndorf riecht. 

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Letztes Wochenende fühlte R. sich nicht gut. Er klagte noch, dass er seine Beine nicht richtig spüre und legte sich hin. Er ist nicht mehr aufgestanden. 


8 Kommentare:

  1. Das ist sehr bewegend, bringt mir R. näher- ein guter Nachruf, ohne falsches Geschwätz. Ich dachte auch sofort an die noch nicht erwachsenen Kinder und seine Frau.
    Es macht nicht nur Freude älter zu werden, gerade deshalb nicht, weil man Menschen loslassen muss.

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    1. Die Kinder sind fast erwachsen. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Es bleiben die Geschichten, die sich aber auch über die Jahre verändern. Und es werden immer weniger, die dabei waren.

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  2. Herzliches Beileid. Man hat mit den Schulfreunden so viele Geschichten erlebt und wunderbarerweise kann man sich an die alten Sachen am besten erinnern, während ich heute manchmal schon nicht mehr weiß, was ich vorgestern gemacht habe. Hoffentlich bekommt R.s Familie alle nötige Hilfe von Freunden und der Verwandtschaft.

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  3. Von guten Mächten wunderbar geborgen
    erwarten wir getrost, was kommen mag.
    Gott ist mit uns am Abend und am Morgen
    und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

    Dietrich Bonhoeffer

    Habe vor 2 Jahren meine Schul- und Jugendfreundin verloren...unfassbar, dieser Verlust (seit30 Jahren nicht mehr gesehen, aber diese intensiven Erlebnisse .. unaussprechbar INTENSIV, mit ... Schulzeit...Tanzstunde... erste Liebe) und dass dieser Mensch nicht mehr da sein wird ... unbegreiflich ... ♥

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    1. Das ist ein Lied, das ich auch immer sehr tröstlich finde. Danke.

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  4. Mitte der 1990er, zweites Jahr BOS. Am Anfang der Sommerferien saß ich einen Abend lang mit Alex am Lagerfeuer; er Pfarrers­sohn, ich fast militanter Atheist, er unerschütterlicher Optimist, ich gerade mit Depressionen in Therapie, er Star Wars, ich Star Trek, er langhaarig, ich Glatze … jemanden näher an einem Besten Freund hatte ich nie zuvor und nie wieder.

    Nach den Sommerferien war er nicht mehr da. Die Familie war ans Meer gefahren, und Alex ging eines Morgens schnorcheln. Sie fan­den ihn eine Stunde später in 4m Tiefe.

    Menschen (ver)gehen. Was zählt, ist das, was wir von ihnen bewahren.

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