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Dienstag, 11. Juni 2024

Die Katzen von Syros und die Katzen von Antiparos

 Auf den griechischen Inseln gibt es viele Katzen. Zu einem Urlaubsaufenthalt gehört deswegen auch, dass man sich möglichst rasch nach Trockenfutter umsieht, um etwas für die Streunerkatzen zu haben, die sich oft nur aus den Mülltonnen ernähren. Als ich letztes Jahr in Syros war, dauerte es zwei Tage, bis ich einen Laden mit Tierfutter fand. Die Katzen waren aber erstaunlich uninteressiert, wenn ich ihnen etwas hinwarf. Bei meinen Wanderungen fiel mir auch auf, dass an den Straßen, weitab von den Ortschaften, neben den Mülleimern mit Steinen beschwerte Plastikschalen voll Wasser standen. Irgendjemand sorgte dafür, dass die wilden Katzen zu essen und zu trinken hatten. Da waren Touris mit billigen Katzenleckerli nicht so interessant. (Etwas anderes, wenn man in der Taverna saß und Fisch auf dem Teller hatte.) Auf Syros gibt es wohl eine Katzenstation mit vielen Helfern. Ich musste zwar das Futter dann noch weiter tragen, es war aber ein beruhigendes Gefühl.


Und auf der nächsten Insel, Antiparos, konnte ich es gut brauchen. Hier gab es die üblichen Rotten von Mülleimerkatzen, mit Verletzungen, dürr und hungrig. Am Kastro im Ort konnte ich für die Abendspeisung sorgen. Bei den Wanderungen blieben die Katzen auf Abstand, stürzten sich aber auf das Futter, wenn ich mich wieder entfernt hatte. Sie hatten wohl Grund, Menschen gegenüber misstrauisch zu bleiben.


Welchen Unterschied es machen kann, auf welcher Insel man geboren wird.

Als ich versuchte, ein paar Wege an der Nordseite der Insel, die ich vor Jahrzehnten schon gegangen bin, wieder zu finden, hatte ich eine verstörende Begegnung. In einem Feld sah ich von weitem eine weiße Katze, ich ging auf sie zu, nahm die Tüte mit dem Futter in die Hand und wollte ihr etwas zuwerfen. Sie drehte ihren Kopf, und ihre Augen waren rote Flecken, war es eine Entzündung oder eine Verletzung, ich weiß es nicht. Sie schien mich mit den blutigen Augen anzusehen, setzte zu einem Schrei an, und verschwand bevor ich ihr etwas zuwerfen konnte. Ich bin (auch wenn sich das hier manchmal anders liest) nicht sonderlich geneigt, in Ereignisse viel hinein zu lesen, aber dieser Moment verfolgt mich seitdem.


Denn eigentlich geht es nicht um Katzen. Ich hatte lange gezögert, wieder in die Ägäis zu fahren, weil die Ägäis inzwischen ein Ort ist, an dem Leute auf der Flucht ertrinken oder in Lagern gehalten werden. Sie treffen auf ein Grenzregime, für das es wichtiger ist, dass möglichst wenige kommen und bei dem inzwischen zweitrangig ist, ob und wie viele Leute ums Leben kommen. Ich habe in den letzten Jahren mit Trauer gelesen, an welchen Orten, die ich gekannt habe, die Leichen angespült wurden. Mit der Zeit habe ich erkannt, dass es wenig Sinn hat, den griechischen Staat verantwortlich zu machen. Er führt aus, was anscheinend alle anderen in der EU für sinnvoll halten. Man will nicht genauer hinsehen oder sich selbst die Hände schmutzig machen, aber hält es schon für richtig, dass nicht mehr so viele kommen. Auch wenn das heißt, dass Leute ertrinken, dass Menschen wieder ins offene Meer geschickt werden. Man muss ja keine Geheimdossiers stehlen, um das zu wissen, es lässt sich alles nachlesen. Und ich wüsste keinen Ort in Europa, der von dieser Schuld unbelastet wäre. Es ist alles bekannt, aber es wird nicht richtig darüber gesprochen, über diese Übereinkunft, dass es hinzunehmen sei, Leute sterben zu lassen, weil sie hier nicht sein sollen. Wir finanzieren Frontex, die Beteiligung daran ist nun eigentlich unabhängig davon, wo man sich befindet, ob in den Bergen oder auf einer Insel. Aber die unmittelbare Nähe zu dem mörderischen Meer, macht diese Dissoziation deutlicher.

Also beschloss ich, wieder in die Ägäis zu fahren, im Bewusstsein, dass diese versteckte Wirklichkeit hier eher sichtbar werden könnte. Lange saß ich in Syros bei dem Denkmal für die ertrunkenen Seeleute, bei der γοργόνα, der Meerjungfrau. Wie kann es sein, dass es Menschen gibt, die immer gerettet werden müssen, und andere, bei denen das nicht vorgesehen ist? Was macht uns so sicher, dass wir, wenn wir uns einmal auf eine Sortierung einlassen, nicht selbst mal auf der falschen Seite sind?



Die weiße Katze mit den blutigen Augen schrie am 19.05.2023, unweit vom Theologos-Strand im Norden. An diesem Strand wurde ein paar Tage später die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie war mit 16 anderen Menschen am 26.05.2023 mit einem Boot vor Mykonos gekentert. Es ist schon bemerkenswert, dass sich zu diesem Tod noch eine Zeitungsnotiz findet, zu alltäglich ist ein solcher Tod inzwischen. Wer sie war, wo sie herkam, wird man wohl nicht mehr erfahren.






12 Kommentare:

  1. weggefaehrtin.blogspot.com11. Juni 2024 um 08:38

    diese menschen zahlen den preis für unseren wohlstand, weit weg von uns, damit wir nicht beunruhigt werden. es ist unsere welt und die der anderen menschen. glück gehabt in der richtigen ecke geboren zu sein, wie die katzen mit der einen insel?

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  2. "WISSEN und TAPFERKEIT
    bauen die Größe auf. Sie machen unsterblich, weil sie es sind. Jeder ist so viel, als er weiß, und der Weise vermag alles. Ein Mensch ohne Kenntnis: eine Welt im Finsternis. Einsicht und Kraft: Augen und Hände.
    Ohne Mut ist das Wissen unfruchtbar. "
    (Balthasar Gracia - Handorakel und Kunst der Weltklugheit)

    WEM hilft dabei alles Wissen und Tapferkeit... bei diesem ELEND in der WELT 😱😭
    und der WEISE sieht's...
    und schweigt 👀🫣😶

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  3. Antworten
    1. Das ist ein griechischer Rembetis. Die hatten es zwar auch mit Drogen, aber weniger mit den synthetischen.

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  4. Lieber Herr Ackerbau, nicht nur erfindest du die schönsten Blogtitel und originellsten Fotobeschreibungen, sondern vor allem zeichnest du dich durch unüberlesbare und uferlose Warmherzigkeit aus. Wenn du unser Bundeskanzler wärst, wäre manches besser, da wette ich drauf.

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    1. Ups, vergessen: dies schrob Deine Bewunderin Annika

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    2. Liebe Annika, vielen Dank und zu viel der Ehre. Als Politiker wäre ich allerdings sehr schlecht, glaube mir.

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    3. Ausnahmsweise glaube ich dir nicht.
      Annika

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    4. Niemand glaubt dem Ackerbau, wenn er sich kleiner macht, als er ist.

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