Everybody's fucked in their own special way

Samstag, 20. Januar 2018

Bedeutende Dienstreisen (36)

"Scheint Sturm zu geben, draußen im Land
so flüsterts und wisperts schon
Drum Kinder haltet euch fest an der Hand
sonst flieget ihr alle davon" (alte Volksweise)

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Kann man sich einen besseren Tag für die erste Dienstreise im Jahr 2018 vorstellen, als den Tag, für den ein großer Sturm angesagt wird? Wenn man so langweilig ist und auf Dienstreisen nichts erleben will, vielleicht schon, aber für mich war die Sache klar: Am 18.01. geht es nach Hamburg. 

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Im Zug morgens alles voll besetzt, lauter zerknitterte Pendler und Dienstreisende mit Kopfhörern im Ohr. Ich füge mich praktisch mimikryhaft in die Atmosphäre ein. In Spandau kommt ein junger Mann auf mich zu und teilt mir mit, sorry, er wolle mich ja nicht verjagen, aber ich säße auf seinem Platz. Durch pädagogisch versierte Fragen und Gesprächsführung lasse ich ihn selbst herausarbeiten, dass er zwar auch Sitz 61, aber im Wagen 21, nicht Wagen 25 hat. Ich darf also sitzen bleiben.  Mein Sitznachbar ist so freundlich und lässt mich nach einiger Zeit an der Steckdose, die wir uns teilen müssen, meine Powerbank aufladen. Eine meiner schlaueren Ideen an diesem Tag. Irgendwann kommt ein sehr alter Mann in Bahnuniform durch die Reihen und will eine Fahrgastbefragung durchführen ("Nur fünf Minuten"). Keiner hat Lust darauf. Jeder schaut starr vor sich hin, wer jetzt noch keine Kopfhörer in den Ohren hat, stopft sich schnell welche rein. Der alte Mann spricht dann einzelne Passagiere gezielt an, die Dialoge werden aber auch nicht ergiebiger oder freundlicher. "Ich habe doch nur höflich gefragt." - "Und ich habe höflich geantwortet!" Im Grunde kurz vor der Schlägerei. Als der alte Mann schon einige Zeit weiter gezogen ist, kommt eine Durchsage, dass Mitglieder der Bundespolizei in den Wagen 21 gebeten werden. Alle im Waggon überlegen, ob das mit der Fahrgastbefragung zusammen hängt. 

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Das Wetter in Berlin war mies, das Wetter in Hamburg ist scheiße. Es stürmt und schneit mit kokosmakronengroßen Schneeflocken, die einem quasi waagrecht ins Gesicht wehen. Obwohl es vom Hauptbahnhof bis zum Veranstaltungsort nur 500 m sind, bin ich einigermaßen durchnässt. Ich bin bei einer Konferenz zu einem Thema, mit dem ich mich vor fast 15 Jahren mal ernsthafter beschäftigt habe. Ich kenne kaum noch jemand, ein paar graue Eminenzen, ansonsten haufenweise Mittdreißiger mit Biss und Spannkraft. Ich weiß aus Erfahrung: das gibt sich. 

(Scheiße-Wetter, Scheiße-Fotos.)

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Ich gönne mir den Luxus, drei Stunden Vorträge zu einem Thema zu hören, mit dem ich wahrscheinlich nie wieder etwas zu tun haben werde. In der Mittagspause treffe ich zufällig einen früheren Kollegen, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe und der seit etwa zwölf Jahren eine Glenn Gould-DVD von mir ausgeliehen hat. Wie jedesmal, wenn wir uns sehen, verspricht er baldige Rückgabe. Man muss ja immer etwas haben, auf das man sich noch freuen kann. 

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Nach der Mittagspause schwänze ich einen Vortrag und treffe mich mit einem anderen früheren Kollegen, der inzwischen in Hamburg lebt auf einen Kaffee. Da ich inzwischen sehe, dass die ersten Züge nach Berlin ausfallen, bitte ich ihn um ein Treffen in der Nähe des Bahnhofes. Nachdem immer mehr Ausfallmeldungen kommen, beschließe ich, nicht mehr zur Veranstaltung zurückzugehen, sondern einfach den nächsten Zug zu nehmen, der Richtung Berlin geht. Die Nacht in Hamburg zu verbringen, habe ich keine rechte Lust. Am Gleis stelle ich fest, dass die zwei Züge, die in der DB-App noch gelistet sind, auch ausfallen. Ich stelle mich an der Information an, die Schlange ist sicher 50 Meter lang, da kommt auch schon die Durchsage, dass der Bahnverkehr nach Berlin, Hannover und Bremen eingestellt sei. Neben mir steht ein Mann mit Rucksack, der mich auf englisch fragt, was da durchgesagt wurde. Ich sage es ihm, es stellt sich heraus, dass er auch nach Berlin muss.  Er ist Australier, der in Berlin wohnt, und kommt gerade von einem Weihnachtsbesuch nach Hause. Mir wird langsam klar, dass es mit dem Zug wohl nichts mehr wird, und Frau Ackerbau ist so nett, mir auf Whats-App doch den Bus vorzuschlagen. Ich stelle fest, dass es noch Flixbus-Plätze gibt und organisiere für mich und den Australier Tickets. Allerdings müssen wir noch eine Zeitlang warten, die Busse sind, nicht verwunderlich, gut ausgebucht. 

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Wir trinken noch einen Kaffee, der Bus kommt natürlich mit Verspätung, und er könnte viel mehr Leute mitnehmen als er Plätze hat. Ich habe Glück, dass ich meine Powerbank noch aufgeladen habe, ansonsten hätte mir mein Handyticket auch nicht viel genutzt. Ich bin vorher noch nicht Flixbus gefahren, muss aber feststellen, dass die Sitze dort bequemer sind als die Sitze in der zweiten Klasse eines ICE. Allerdings kann ich im Bus nicht lesen, so vertreibe ich mir  die Zeit mit dem Hören von Podcasts und ausufernden Twitterkonversationen mit führenden Literatur- und Politikbloggerinnen. 

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Ein bisschen später als geplant komme ich in Berlin an, Friederike hat Berlin und mich nicht entzweien können. Die S-Bahnen fahren, deswegen bin ich auch bald zuhause und froh, dass ich nicht in Hamburg bleiben musste. 

9 Kommentare:

  1. Das war knapp. Du hättest tot sein können. 18. Januar, dein zweiter Geburtstag. Ich bin gar nicht erst aus dem Haus gegangen und habe nur am Spätnachmittag die Sturmschäden im Garten begutachtet. Zwei kunstvoll aus Eisen geschmiedete Rankgitter für die Rosen wurden aus der Verankerung gerissen.

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    1. Nein, in Hamburg und Berlin war das alles eine maue Sache. Außer der Gefahr, nicht nach Hause zu kommen, war nichts zu befürchten. Bei euch war schon mehr los.

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  2. Glück regiert das Leben, nicht Weisheit.
    - Marcus Tullius Cicero

    ... und krisenzubewätigende LEBENSERFAHRUNG !!! *ichmirdaganzsicherbin*

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    1. Angeborene Wurschtigkeit erleichtert es auch.

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    2. SONNTAGSwurschtigkeit - heute -
      mitohne FRÜHSTÜCKSLEKTÜRE... Kerl, näh !!!

      *Abgründe*

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    3. Geduld. Man wird doch einmal im Monat ausschlafen dürfen.

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    4. JA, im Prinzip schon... aber nur NICHT sonntags !!!

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  3. Für Hamburger Verhältnisse war das Wetter doch gut.

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