Everybody's fucked in their own special way

Mittwoch, 27. September 2023

Maulbeeren

 


Vor ein paar Jahren, als ich darüber las, wie die preußischen Könige in Berlin große Maulbeerbaumplantagen anlegen ließen, um groß in die Seidenproduktion einzusteigen, machte ich mich auf die Suche nach Maulbeerbäumen in Berlin. In der Nähe der Friedrichstraße fand ich einen der letzten alten Bäume, Jahrhunderte alt, vom Stahlträger gestützt. In Pankow machte ich mich auf die Suche nach Maulbeerbäumen in Bürgerpark und Schönholzer Heide - nichts zu finden. Meine Anzuchtsversuche blieben ohne Resultat. So dauerte es bis zum Mai diesen Jahres bis ich meine ersten Maulbeeren aß. Nicht in Pankow, sondern an einem Strand südlich von Kini auf Syros. Aber der Reihe nach.

Ich war nach Syros gefahren, um mir die Heimatinsel von Markos Vamvakaris einmal anzusehen. Bei früheren Ägäisreisen war ich dort nie gewesen, es war Zeit, das nachzuholen. Mit Markos Autobiographie im kleinen Rucksack kam ich zuerst zur Inselhauptstadt und sah mir die Stadt auf dem Hügel, Ano Syros, an, in der Markos aufgewachsen war.Inzwischen war ich schon weitergereist nach Kini, einem Fischerdorf im Westen. Alte Vorsaison-Regel: Fischerdörfer sind immer gut, da kriegt man normalerweise auch etwas zu essen, wenn ansonsten alles noch geschlossen ist. Einquartiert hatte ich mich in der Pension Markos, deren Besitzerin Maria geduldig mit mir griechisch sprach. Während sich in Ano Syros die griechische Haute volée trifft und die Lokale „Hygge“ heißen, ist in Kini alles wie gewohnt. Mein Zimmer kostet zwanzig Euro die Nacht, der Frappé zweifünfzig.

Markos Vamvakaris wurde 1905 auf Syros geboren, ging ein paar Jahre zur Schule, musste alle möglichen Arbeiten übernehmen, als Hütejunge, in der Baumwollfabrik, als Zeitungsjunge, bis er 1918 abrupt die Insel verlassen musste, weil er einen Felsbrocken die Straße vom hohen Hügel in Ano Syros herunter rollen ließ, der ein Hausdach zerschlug. Mit 13 kam er nach Piräus, arbeitete im Hafen, schleppte Kohlen, arbeitete als Metzger, rauchte Haschisch und spielte Bouzouki. Sein bekanntestes Lied, Frankosyriani, besingt ein katholisches Mädchen aus Syros. Der Sänger zählt die ganzen Orte auf der Insel auf, die er mit seiner Flamme besuchen will. Ich hatte die vage Idee, (ohne Begleitung einer Frankosyriani) die Orte abzuspazieren. So groß ist die Insel ja nicht, und was der 10jährige, der noch nicht mal Schuhe hatte, geschafft hat, sollte ja auch für mich erreichbar sein. Finika, Parakopi, Galissa, Della Grazia, Pateli, Neochori, Alithini, Piskopio - wie schwer kann es schon sein? Nun ja.

Nach Finika, Parakopi, ich werde dich überall hinbringen

Galissa, Dellagrazia, und wenn es mich auch umbringt

Kini kommt in Frankosyriani nicht vor, aber Markos ging mit seinen Brüdern oft dorthin zum Baden. Etwa sechs Kilometer von Kini entfernt liegt Galissa, das im Lied vorkommt. Es gibt einen Pfad die Küste entlang, von dem ich mir vorstellen kann, dass er auch schon vor hundert Jahren so verlaufen ist. Die Straßen täuschen darüber, dass die richtigen Wege hier die Eselspfade sind (auch wenn ich keine Esel mehr gesehen habe). Der Spaziergang beginnt am Hafen, bei einem Frappé, bei einem Denkmal für die Seenotrettung. Eine Seejungfrau hält einen Ertrinkenden fest. Mich hatte verwirrt, als Maria mir vorher erzählt hatte, dass das Café bei der Gorgone sei, weil ich mit Gorgone eigentlich eine Schreckensgestalt verbinde, das Wort bezeichnet aber jetzt im Griechischen wohl einfach Seejungfrau. Es ist merkwürdig in der Ägäis ein Denkmal für Seenotrettung zu sehen, weil dort inzwischen zahllose Menschen ertrinken, ohne dass viel zur Rettung unternommen wird. Man kann das auf die Griechen schieben, aber es geschieht mit unserer Billigung, voll Erleichterung, dass es weit entfernt ist. Wir können anscheinend mit allen Furchtbarkeiten leben, wenn sie weit genug entfernt geschehen und wenn wir davon ausgehen, dass die Grausamkeiten nur anderen passieren.


Vom Hafen geht es Richtung Süden, am Strand entlang. Irgendwo soll der Weg nach oben gehen, ich versuche erst einen Hohlweg, der aber zu einem Bauernhof führt. Ich gehe zurück und finde den Weg, der der Küste entlang nach oben zu einer Kirche geht. Es gibt wenig, was schöner ist als einen Weg das erste Mal zu gehen. Nie zu wissen, welcher Blick sich nach den nächsten Schritten ergibt. Und der Blick auf die Bucht von Kini und dann die Küste entlang ist auch wirklich angenehm.



Am Wegesrand wächst viel wilder Fenchel, perfektes Futter für viele Schmetterlingsraupen. Während ich gehe, bin ich auch umschwärmt. Ich überlege mir, nächstes Jahr Fenchel nur für die Schmetterlinge anzubauen. Über mir schwebt ein großer Vogel, ein Seeadler? Weder kann ich so gut sehen, noch bin ich ornithologisch genügend bewandert, um es sicher zu wissen. 



Die Luft riecht nach Oregano und Thymian, der wild am Wegesrand wächst. Es ist noch ein weiterer Geruch in der Luft, wie Aperol, den ich keinem Kraut zuordnen kann. Ich nehme mir ein paar verblühte Salbeiblüten mit, nach Markos soll der Syros-Salbei praktisch gegen alle Krankheiten helfen. Leider geht er in Pankow nicht auf.




Nach einer Dreiviertelstunde Eselspfad mündet der Pfad in eine Straße, die nach dem Meister benannt ist. Der Weg wird langweiliger, aber man kann Kühe ansehen. Schließlich komme ich in Galissa an. Eigentlich Zeit für das Mittagessen, aber kein Lokal hat auf. Vorsaison. An einem Kiosk kaufe ich mir Wasser, Kekse und ein Bier und lege mich an den Strand. Eigentlich könnte man noch weiter nach Finikas und Dellagrazia gehen, auch nur noch 6 km weiter, dann hätte man schon ein Drittel Frankosyriani abgelaufen. Allerdings bin ich zurückhaltend, man muss halt immer noch zurück, und das macht aus einem 12 km Spaziergang einen 25 km Marsch. Ich gehe also gleich zurück, der Weg sieht auf dem Rückweg bekannt, aber doch ganz anders aus. Wieder in Kini am Strand angekommen, gehe ich noch einmal in den Hohlweg. Und tatsächlich: Die Bäume sind Maulbeerbäume. Ich pflücke ein paar der Beeren. Sie schmecken süß, fast wie Brombeeren. 


Als ich einen Monat später wieder in Pankow bin, sehe ich in der Kissingenstraße die roten Flecken auf dem Bürgersteig. Ich schaue nach oben und sehe Maulbeeren, vor St. Georg stehen drei Bäume, Mitte der Siebziger gepflanzt, mir noch nie aufgefallen. Ich strecke mich und pflücke ein paar Beeren. Sie schmecken fade und wässrig.



12 Kommentare:

  1. Heute werde ich verwöhnt,
    LB Andreas 👩‍❤️‍👨
    Was für eine herrliche Morgen - Lektüre ☕📖

    DANKE ❣️

    Der Maulbär

    (Sitz der Weisheit
    Der Maulbeerbaum
    Marcel Piethe /// 25. September 2007 /// Zeitreisen ///) :

    Vielfältig ist der Maulbeerbaum. Wollte man die Geschichte des Maulbeerbaums schreiben, könnte man ebenso gut eine kleine Enzyklopädie der Kulturgeschichte Asiens oder auch Europas verfassen. In den Mythen altorientalischer Völker verheißt der Maulbeerbaum Reichtum und Nahrung. Die alten Griechen sahen in den Maulbeeren Götterspeise und bei den Römern galt der Baum als Sitz der Weisheit.... 🙏

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  2. Da schließe ich mich mal der lieben Annette an. Wie schön, daß Du hier wieder regelmäßig auftauchst. Ich weiss gar nicht, wie ich Deinen Schreibsstil benennen soll, aber gefällt mir gut, das Erlebte mit der eigenen Gedankenwelt zu verknüpfen und dabei über den Tellerrand zu sehen. Das ist schlau und sehr menschlich. Wann kommt das Buch ? LG Gitta

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    1. ... 🖋 JEPP, ein Buch, ein Buch 📙!!!

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    2. Ich bin ja schon froh, wenn ich etwas finde, um es ins Internet zu schreiben.

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  3. Guck an... ich bin nicht die Einzige.

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  4. Frau Irgendwas ist immer27. September 2023 um 20:30

    Wir haben Anfang August in Istanbul Maulbeeren gegessen, einfach beim Straßenhändler gekauft. Sehr lecker!
    Auf dem alten Friedhof in der Gotlindestr. (Lichtenberg) wachsen 2 Bäume, noch sehr jung, also ohne Früchte.
    Gruß

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    1. Es sind doch mehr Maulbeerbäume in der Stadt als man denkt.

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  5. kurfürst carl theodor ließ eine maulbeerallee vom heidelberger zum schwetzinger schloß pflanzen ließ(er war umgezogen nach schwetzingen). schmecken mir gut, kenne ich aus südfrankreich. in hd fand ich nichts mehr von dieser allee.

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    1. Das wird die hier sein, um deren letzte Spuren dort geforchten wurde – ich weiss aller­dings nicht, was in den zehn Jahren seit­dem passiert ist. Immer­hin gibt es (noch) den Klein­garten­verein Maul­beer­anlage samt Vereins­lokal, das für sein „goldiges Personal“ gelobt wird [private Kommunikation].

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    2. Die Geschichte des Maulbeerbaums ist ziemlich spannend, glaube ich.

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  6. Danke, toller Bericht, macht Lust mal wieder auf die griechischen Inseln zu reisen. Es sind in der Tat die Gerüche, die mich immer umgehauen haben. Fenchel gehörte sicher dazu, aber es gibt da einen starken heuartigen Geruch, ich erinnere mich z. B. an Amorgos, auf dem Weg vom Hafen zur Chora, der ganz typisch ist, den ich aber nicht einer Pflanze zuordnen kann. Evtl. ist es auch die Mischung der Düfte. Wenn ich mich recht erinnere, ist Syros oft die erste Insel, an der die Fähre auf die Kykladen anlegt. Und hauptsächlich Griechen an Land gehen. Stimmt das?

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    1. Ja, Verwaltungshauptstadt der Kykladen, Urlaubsort der schicken Griechen. Man hätte auch schon vor Jahrzehnten mal früher von der Fähre steigen sollen. Ich schreibe noch mal etwas mehr zu Syros.

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