Wenn meine Mutter mich fragt, ob ich jemand auch gekannt habe, heißt das nichts Gutes, sondern dass der- oder diejenige gestorben ist. Ob ich A. gekannt habe, hätte sie nicht fragen müssen. Jeder kannte A. Klein, mit markantem Gesicht, immer irgendeiner merkwürdigen Idee hinterherjagend. Wenn A. da war, merkte man es. Er wurde nicht übersehen. Man konnte ihn vielleicht nicht immer ernst nehmen, aber ganz sicher auch nicht lange böse sein.
Ich kann mich nicht erinnern, ob wir mal in derselben Klasse waren, wahrscheinlich nicht, auch wenn er nur zwei Monate jünger war als ich. Ich erinnere mich, wie er mich mal verzweifelt anrief, weil seine Eltern seine Dead Kennedys Platten gefunden hatten und ihn wegen der antichristlichen Texte zur Rede stellten. Ich gab Argumentationshilfe, dass es sich hier ja um Kritik an der evangelikalen Rechten in den USA handele. A.s Eltern hörten sich aber weiter durch seine Plattensammlung, bei ZSD „ Herr verzeih“ half dann die schönste Argumentation nicht mehr. Ich habe A. gar nicht als einen der Punks in Erinnerung, er war eher überall dabei, wo es ein bisschen Rambazamba gab.
Das letzte Mal habe ich ihn wohl vor über dreißig Jahren gesehen, als er zu einer Silvesterparty einlud, weil seine Eltern nicht da waren. Wir kamen spät dazu, tranken still ein Bier, während die Party etwas außer Kontrolle geriet. Gegen zwei Uhr hieß es, die Eltern kämen, es gäbe Ärger und alle machten sich vom Acker. Aus Gründen, die sich mir jetzt selbst nicht mehr erschließen, blieb ich aber, weil ich mein Bier noch austrinken wollte. Damit war ich der einzige Ansprechpartner für den wutentbrannten Vater, der mir die Verwüstung im Haus zeigte. Ich stimmte ihm zu, dass man Glastische nicht kaputt machen sollte, aber ich hier nur zum Biertrinken hergekommen sei. Anders als andere habe ich dann keinen Anwaltsbrief erhalten.
Legendär wurde A. an der Schule durch eine Aktion bei Lehrer B., einem fröhlichen Verbreiter von Nazigedankengut, wie es damals viele gab. B. ließ nie Schüler während des Unterrichts herausgehen, wenn sie sich schlecht fühlten. A. nahm deswegen während des Unterrichts ein Brechmittel, meldete sich, dass er rausgehen müsse, das wurde ihm verwehrt, worauf er B. über den Tisch kotzte. Damit hatte er für alle Schüler erkämpft, dass man jederzeit bei B. rausgehen konnte, wenn man sagte, dass einem schlecht sei.
Diese Geschichten, lange her und durch hundertfaches Erzählen abgeschliffen, werden A. nicht gerecht. Ich weiß nicht, was er später gemacht hat. Aber ich weiß, dass ihn niemand, der ihn kannte, vergessen hat.
A. hat sich letzte Woche zum Schlafen gelegt und ist am Morgen nicht mehr aufgewacht.
Der TOD kommt meist ungelegen und immer zu früh 😇
AntwortenLöschenIm Schlaf hat er - für mich - nichts beängstigendes... der Mensch gleitet hinüber, ohne Angst und Pein 🙏
Aber, was weiß ich schon 🤷♀️
"Wir können dem Tod nicht das Handwerk legen, aber wir können die Erinnerungen an den Menschen am Leben halten."
Nitschke, Heinz 💔
Hat man jeden Abend alles so gut bereitet, dass man am nächsten Tag liegen bleiben könnte?
LöschenWer regelt schon alles jeden Tag, dass er jederzeit gehen könnte... ICH NICHT 🙏
Löschen"Sorge, aber sorge nicht zuviel,
es geht doch alles wie Gott es will."
Julius Wilhelm Zincgref (1591-1635)
mich macht es etwas traurig, er war jünger wie ich. in den todesanzeigen gibt es immer mehr geburtsjahrgänge wie meines. da denke ich schon und übe mich im akzeptieren der sterblichkeit. ich würde gern im schlaf sterben(wie mein vater, er war 53 j), für immer weg ist trotzdem traurig.
AntwortenLöschen53 ist viel zu früh.
LöschenDu hast da oben (unbeabsichtigt, nehme ich an) einmal den Nachnamen drin gelassen, und ich frage mich jetzt, was ein Mensch aus meiner Jugend mit dem selben Initial und Nachnamen, auf den die gleiche Beschreibung passen könnte, was der heute so treibt. Ob er überhaupt noch da ist.
AntwortenLöschenTja.
Ah nein, "Klein" ist das erste Wort des nächsten Satzes. Den Vornamen könnte man erraten, wenn man zu viel Zeit hätte.
LöschenDas macht die Koinzidenz nicht weniger bizarr.
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