Everybody's fucked in their own special way

Montag, 11. Mai 2020

Die Feile im Kuchen: Eine unsystematische Suche

Letzte Woche hatte ich das Brotbacken als Twitter-Synchron-Backen ausgestaltet, zusammen mit und auf Anregung von R., der Brote backt, die aussehen, als seien sie von einem niederländischen Meister in Öl gemalt. Zwischendrin stellte er die Frage, woher eigentlich die Bildidee kommt, dass Gefängnisausbruchswerkzeuge in Torten eingebacken werden. Seine erste Assoziation waren die Panzerknacker, auch ich dachte, dass sich in den klassischen Comics sicher der Ursprung dieser Idee finden ließe. 


Tja. (Hier ist ein ganz guter Punkt, um die Lektüre abzubrechen, wenn man irgendetwas anderes zu tun hat.)

(Ehrlich jetzt.)

Ein paar Tage vergingen, ich hatte endlich etwas freie Zeit, aber eigentlich Dringenderes zu tun, da kam mir die Frage wieder in den Sinn. Die ersten Gottfredson-Micky-Strips der Dreißiger durchgesehen, in denen sehr gerne aus dem Gefängnis ausgebrochen wird. Die Methoden sind aber durchaus anders.

(Micky 1931, gezeichnet von Floyd Gottfredson - es geht auch ohne Kuchen, wenn ein Bär an das Gefängnisgitter gekettet wird, (c) Walt Disney)

In den Barks-Panzerknacker-Geschichten geblättert, auch keine Feilen oder Kuchen gefunden. Nach etwas Nachdenken festgestellt, dass ich mich auch an keine Geschichte erinnern kann, in der die Feile im Kuchen tatsächlich ein Plotbestandteil gewesen wäre. Ab und zu taucht die Idee als Gag am Rande auf. Noch einmal zu Schrank, Nick Knatterton durchgeblättert, der eigentlich keinen klischeehaften Gag ausgelassen hat. Fehlanzeige. Dann fündig geworden bei Lucky Luke, aber dort ist die Feile im Kuchen eher ein Meta-Gag. Ma Dalton bäckt dauernd Kuchen mit Feilen, Averell Dalton isst dann aus Versehen die Feile oder feilt sich damit die Fingernägel usw.  Die Geschichten variieren eine Idee, deren Bekanntheit ganz offensichtlich beim Leser schon vorausgesetzt wird. Die Feile im Kuchen ist kein spannender Trick, die Handlung voranzubringen, sondern ist eine Art Meme, dessen Kenntnis schon vorausgesetzt wird. 
(Die Panzerknacker sind 2018 auch eher auf der Meta-Ebene unterwegs. Die Feile ist zu erkennen, beim Kuchen habe ich Zweifel, (c) Walt Disney)

(Ergänzung, 24.5.: Ab und zu findet sich die Idee tatsächlich auch unironisch, wenn auch abgewandelt, so z.B. in der Geschichte "Der hohle Berg" von 1972, die Guido Martina geschrieben hat. Die Feile ist hier allerdings in einem Fisch versteckt, Goofy will sie als lästige Gräte zuerst wegschmeißen. (Danke an Fellmonsterchen für den Hinweis!)


Aber irgendjemand muss doch auch die Idee mit dem Kuchen schon ernsthaft als Plot-Element eingesetzt haben? Jeder und Jede, die man fragt, geht davon aus, dass das eine Idee sei, die aus Comics stamme (in Zeitungsartikeln wird auch alternativ gerne an die Olsenbande erinnert). Aber anscheinend ist dem nicht so. Wo sucht man also weiter?

Meine erste Vermutung war, dass die Idee vom Anfang des letzten Jahrhunderts stammen müsste, auf der Grundlage einer vagen Vorstellung der Entwicklung des Gefängnissystems. Aber weit gefehlt, Gitterstäbe gibt es eben schon länger, Gefangene ohnehin. Zumindest in Systemen, in denen die Gefangenen von Angehörigen versorgt werden, bietet es sich ja an, Dinge in Brot oder Kuchen zu schmuggeln. 

Ein bisschen virtuelles Graben führt mich zu Prosper Merimée und dessen Novelle Carmen von 1847. Don José bekommt in seiner Zelle ein Brot als Geschenk; in dem Brot findet er eine Feile und ein Goldstück, damit will Carmen ihm zum Ausbruch verhelfen. (In der Oper von Bizet fehlt dieses Stück der Erzählung.) Hatte Merimée für die Idee Vorbilder? 

Wir finden uns nun plötzlich in der Welt der Zeitschriften des Vormärz wieder, damals gab es eine Vielzahl von Blättchen mit spannenden Geschichten, so z.B. die "Zeitung für die elegante Welt". Im Februar 1826 findet sich dort ein Stück - ohne Autorenangabe - das "Unverhoffte Rettung" heißt und das beschreibt, wie der spanische Edelmann Don Estevan von seinem Sklaven Zamora aus den Fängen der Inquisiton in Lissabon gerettet wird. Der Sklave verschafft seinem Herren in seinem Gefängnis einen Laib Brot, in dem sich die Feile findet, die dann schließlich zur Rettung eingesetzt werden kann. Wenn man weiter versucht, den Ursprung dieser Geschichte zu finden, stellt man fest, dass die Zeitung für die elegante Welt sie von "Der Sammler" abgeschrieben hat, der dieselbe Geschichte schon im Dezember 1811 unter dem Titel "Rettung aus den Kerkern der Inquisition von Lissabon" gebracht hatte. Damals noch mit dem Hinweis, dass es sich um eine wahre Geschichte handele, die sich 1702 begeben habe und die kürzlich in einem in London erscheinenden Journal berichtet worden sei. Wir stellen also fest, dass schon vor dem Zeitalter des Internets jeder von jedem abgeschrieben hat, da wir jetzt aber im Zeitalter des Internets sind, können wir auch leicht feststellen, dass die Geschichte aus The Literary Panorama von 1810 stammt, dort wurde sie im Rahmen einer Rezension des Buchs "The history of the Inquisitions" dargestellt. Auch das scheint aber nicht der wahre Ursprung zu sein, wir finden die Geschichte nämlich auch schon in Band 2 der 1809 erschienenen "Histoire d'Inquisitions Religieuses d'Italie, d'Espagne et de Portugal" von Joseph Lavallée. Wahrscheinlich hat auch Lavallée die Geschichte aus einer früheren spanischen Quelle, die ich schon mangels Sprachkenntnissen nicht finden könnte. Die Geschichte, ihr Inhalt, ihre Verbreitung stellen eine Vielzahl von spannenden Fragen, denen sich allerdings Menschen mit literar- oder überhaupt historischen Kenntnissen widmen dürfen. Hier und für mich soll erst einmal genügen, dass der Trick mit der Feile im Brot in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch ausgereicht hat, um Spannung beim Publikum zu erregen (die Zeitung für die elegante Welt hat immerhin eine Fortsetzungsgeschichte daraus gemacht; passend dazu gibt es auch bei Alexandre Dumas, dem Meister des Fortsetzungsromans in dem Roman Ascanio von 1843 eine Brot-und-Feilengeschichte.)

Ereignete sich der Trick mit der Feile im Brot tatsächlich das erste Mal im 18 Jhd. in Lissabon? Und wann und wo wurde aus Brot Kuchen? Auf die erste Frage weiß ich natürlich keine Antwort, aber es deutet einiges darauf hin, dass die Idee schon früher entstand, auch wenn die Datierung nicht ganz einfach ist. C.F. Mosch hat 1821 ein erstaunliches Buch "Bäder und Heilbrunnen Deutschland's und der Schweiz" veröffentlicht, das heutzutage wohl das literarische Publikum alleine wegen des Apostrophen wütend machen würde (in der damaligen Rezeption gab es anscheinend eher einen Streit über die  Aachener Schwefelwässer, die bei Mosch vollkommen unrichtig dargestellt worden seien). Bei der Beschreibung der Burg Chojnik bei Sobieszów (damals Kynastburg) referiert Mosch eine Legende, nach der ein Gefangener sich aus dem Kerker im Schlossturm befreien konnte, weil ihm seine Ehefrau ein Brot mit Feile und Seil in den Kerker schmuggeln ließ. 1821 konnte man sich wohl noch das abgebrochene Eisengitter ansehen. Diese Legende vom Kynast war nicht ganz so bekannt wie die von der hartherzigen Prinzessin Kunigunde, geisterte aber auch durch die Legendensammlungen des frühen 19 Jahrhunderts. Man kann natürlich davon ausgehen, dass die Legende deutlich früher entstanden ist. 

Aber wo bleibt der Kuchen? Erstaunlicherweise finden wir den Kuchen in einer weiteren spanischen Quelle, einer Romanze (etwa: balladenhaftes Volkslied), die wahrscheinlich eine der ältesten Darstellungen des Backwerks-als-Werkzeugversteck-Gedanken ist. Ich kenne nur die deutsche Übersetzung "Der Gefangene" in der Sammlung von Diez von 1818. Das Gedicht beschreibt die Qual eines Gefangenen, der im Frühling im Kerker liegt. Er wünscht sich ein Vöglein, das seiner Frau Leonore folgende Botschaft bringt:
"Kuchen sollte sie mir senden,
nicht mit Salm gefüllet, nein,
nur mit einer stillen Feile,
einem Hammer, spiz und fein,
Feile für die Eisenfesseln,
für den Thurn der Hammer sei." 

Ich lasse mal beiseite, welche Kuchen denn mit Lachs gefüllt werden, und berichte nur, dass der Gefangene so laut klagte, dass der König ihn hörte und ihn aus dem Kerker freigab. Diez verweist als Quellen (S. 52 im verlinkten Buch) für die spanischen Originale auf verschiedene Sammlungen, deren früheste von 1555 datiert. Ob die Romanze vom Gefangenen die Anregung für die Geschichte von Don Estevan und Zamora war? 

(Eigentlich hatte ich hier schon aufgehört, fand es dann aber interessant, dass in der Romanze von einer "stillen Feile" die Rede ist und in der französischen Geschichte der Inquisition auf eine "lime sourde" verwiesen wurde, so dass ich einmal nach "lime sourde pain" gesucht habe. Weiter geht's.)  

Der Bretone Alain-René Le Sage hat 1707 (Endfassung 1726) ein Buch "Le diable boiteux", der hinkende Teufel, geschrieben, in dem der Teufel an einer Stelle auf drei Verbrecher verweist, die mittels einer in ein Brot eingebackenen Feile aus dem Gefängnis ausbrechen konnten.  Waren es also doch die Franzosen? Le Sage hat seinen Hinketeufel aber auf der Grundlage einer Vorlage des Spaniers Luis Vélez de Guevara geschrieben, vielleicht tauchen das Brot und die Feile also auch schon in El diablo cojuelo von 1641 auf. Vielleicht gibt es auch in ganz Europa, überall, wo es im Mittelalter Kerker mit Eisengitter gab, Legenden der schlauen Ehefrauen, die Brot mit Werkzeug brachten. Wer weiß.

Ich bin zunächst damit zufrieden, viele Dinge gefunden zu haben, die ich eigentlich gar nicht gesucht habe.

4 Kommentare:

  1. APPLAUS

    und
    EINTRAG in´s Klassenbuch... 1 +
    als EINZIGER die Aufgabe - die nicht gestellt wurde - mit bravour erfüllt !!!
    *** Sternchen für die Fleißarbeit ... Andreas setzten ...♥

    Hervorrangende Morgähnlektüre... für den Unterhaltungs-Oscar vorgeschlagen... (ړײ)

    *DANKEamEisheiligentag: Mamertus
    Montag, 11. Mai 2020*

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    1. Lösung von Aufgaben, die nicht gestellt wurden.

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  2. Interessante Recherchen. Ich kann auch noch was dazu beisteuern: In der Geschichte "Der hohle Berg" werden Micky und Goofy in einem hohlen Berg (ach was) gefangen genommen und hinter Gitter verfrachtet. Jemand lässt ihnen eine Feile zukommen -- allerdings in einem Fisch.

    (Dass ich erst jetzt kommentiere, hängt damit zusammen, dass ich mit der Blogleserei gnadenlos hinterherhinke, da hilft auch keine Feile und auch kein Kuchen, nicht mal Caipi ...)

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    1. Vielen Dank! So hatte ich mir das erhofft! Ich habe deinen Hinweis gleich ergänzt (die Geschichte kannte ich eigentlich, hatte mich aber nicht mehr daran erinnert). 1977 habe ich ja alles grlesen, was es so an MM-Sachen gab.

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