Everybody's fucked in their own special way

Donnerstag, 9. Februar 2017

Meine ersten Berliner

(Da ich jetzt ohnehin angefangen habe, hier alte Geschichten aufzuschreiben, ist es jetzt auch schon wurscht.)

Bevor ich vor knapp zwanzig Jahren nach Berlin kam, hatte ich von der Stadt keine Ahnung. Die wenigen Berliner, die ich in meiner Jugend kennen lernen konnte, hätten mir aber schon eine deutliche Warnung sein können:

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In der ersten Klasse saß in den ersten Wochen ein Junge bei uns an der Schulbank, den keiner vorher kannte. Seinen Namen habe ich vergessen, aber er kam aus Berlin und teilte das auch gerne und häufig mit. Als sich jeder Tisch ein Symboltier aussuchen durfte, wollte er unbedingt, dass wir einen Bären nehmen, weil der Bär auch das Berliner Symboltier sei. Haben wir natürlich nicht gemacht (aus unserer Sicht wäre ja eine Kuh konsequent gewesen, das haben wir aber auch nicht gemacht). Der Junge war nach ein paar Wochen wieder weg. Niemand wusste, wohin er gegangen war. 

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Im Sommerurlaub im Bayerischen Wald (immer ging es in den Bayerischen Wald, nie nach Italien, wo alle anderen hinfuhren) war auch einmal eine Berliner Familie bei dem Bauernhof, in dem wir wohnten. Sie waren nett. Zwei Dinge blieben uns nachhaltig im Gedächtnis: Zum einen sagten sie "Srette" anstelle von "Zigarette" und zum anderen begrüßten sie ihre faltige Oma in der Frühe gerne mit dem Satz: "Na, Oma, hasse wieder im Korbstuhl geschlafen?"

***



Irgendwann tauchte M. auf, der ein Cousin eines etwas einschichtigen Jungen aus dem Ort war. M. war groß, hatte einen Iro, traurige Augen und gewisse Bewegungskoordinationsschwierigkeiten, weil er Pattex schnüffelte. Es ging das Gerücht um, dass er in Berlin einmal jemand erschlagen habe, aber wenn ich darüber nachdenke, ging über sehr viele Leute bei uns das Gerücht um, dass sie jemand erschlagen hätten. Wird schon nicht in allen Fällen gestimmt haben. Sicherheitshalber hielt man aber etwas Abstand. M. hatte sehr seltsame Freunde, selbst für unsere Verhältnisse. Ich kann mich an einen Nachmittag erinnern, an dem wir vor dem Jugendzentrum saßen und Bier tranken, M. war auch dabei. Plötzlich kamen zwei seiner Freunde mit dem Auto und sagten, er müsse einsteigen, sie bräuchten ihn dringend für eine Sache. Stunden später kam M. wieder, grün und blau geschlagen. Erst Jahre später ist mir klar geworden, dass gar keine Dritten, wie er dann erzählte, beteiligt waren, sondern dass seine Freunde ihn abgeholt hatten, um ihn zu verprügeln.

***



Genauso plötzlich tauchte irgendwann W.* auf. Er war Anfang der Achtziger Jahre in einem Lastwagen aus Ostberlin geflohen (das hat er zumindest erzählt), da er es im Osten nicht aushielt, "weil da alles Sacksteiger" seien. Häufig hat er mir traurig erzählt, dass er aus dem Osten wegwollte, weil da alles "Sacksteiger der Partei" gewesen seien, im Westen seien aber alle "Sacksteiger des Geldes". Er hat auch gerne über die Marihuana-Versorgung im Osten und Westen philosophiert, ich kann mich aber nicht erinnern, wo er es besser fand, da mich das nicht interessiert hat. W. war einer der ersten Tätowierten bei uns am Ort, natürlich nur so eine selbstgemachte Tätowierung, aber immer noch eine der beeindruckendsten, die ich bislang gesehen habe. In unserem Freibad war das kein schlechtes Aufsehen, wenn ein spindeldürrer Typ auftauchte, der knapp unter seinem Bauchnabel "Kein Trinkwasser" tätowiert hatte (nun gut, das ist etwas übertrieben, irgendwie war er nur bis "Kein Trinkwa" gekommen, aber man wusste ja, was gemeint war.) W.s Hobby war, Rosenkränze aus Dorfkapellen zu klauen. Er war dann irgendwann genauso schnell wieder weg, wie er aufgetaucht war.

*Eigentlich auch M., aber ich will es hier nicht zu verwirrend machen. Die Tattoo-Geschichte wollte ich schon immer mal aufschreiben.

24 Kommentare:

  1. Suchet jetzt die Tage so zu färben,
    der Moment hält seine Farben treu,
    daß, wenn nach und nach die Freuden sterben,
    bleibender Genuß im Rückblick sei.

    Johann Gottfried Seume
    (1763 - 1810)

    *Tja...wenn´s denn SO einfach wär*

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    1. Soll das heißen, du fandest diesen Rückblick keinen bleibenden Genuss?

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    2. GENUß liegt - immer - im Auge des Betrachters
      oder im/am Gaumen
      oder sonstWO
      ... vielleicht (ړײ) *zwinker*

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    3. ... denn IMMER - herzhaft - in einen BERLINER beißen kann ! *mmmmh...soleckermitPflaumenmusgefüllt...hehe*

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  2. Krass... Und das musste er sich auf den Bauch tätowieren? Gab's bei euch keine T-Shirt (oder Unterhosen-) Druckereien????

    ... Ich frage mich, ob er das Wort inzwischen ergänzt / ergänzen lassen hat...

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    1. Unterhosen zu bedrucken wäre Mitte der Achtziger ein noch revolutionäreres Konzept gewesen. Das Problem damals war: man hat nie gefragt, alles nur hingenommen. Wenn ich damals etwas neugieriger gewesen wäre, wäre jetzt sicher vieles weniger rätselhaft.

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  3. Ich habe mal jemand getroffen, der lange im Knast war (angeblich hat er wen erschlagen) und von dort eine ellenlange Tätowierung mitgebacht hatte: "Jeder ist seines Glückes Schmied". Hätte drei Tage gedauert. Schmied war falsch geschrieben - ich wollte aber nix sagen.

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    1. Ws der Berliner Berliner nennt, nennt der Hesse, oder zumindest der Frankfurter Kreppel.

      In meinen langen Jahren in Frankfurt hat sich nur eine einzige Berlinerin dorthin verirrt und die war so rotzig, derbe und lokalpatriotisch usw., dass es mir beinahe die Sprache verschlug.
      Dass Sie gleich soviele Berliner im Allgäu erleben durften ist erstaunlich. Dass sie alle irgendwie speziell waren hingegen nicht.
      (Die Geschichte mit den prügelnden "Freunden" ist traurig)

      Ich habe übrigens auch ein sehr kleines selbstgestochenes Tattoo am linken Fuß. Mit 14 gestochen, sollte es eine Schlange darstellen, wird aber immer (!) für Dreck gehalten.

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    2. Heissen die verzehrbaren Berliner in diesem voll verrückten Berlin nicht „Pfannkuchen“? Und die Brötchen „Schrippen“?

      Ich frage das, weil mir gerade meine erste nachhaltige Berlinerinnerung wieder einfiel. Wir (ein Trupp Provinzmöchtegernpunks) waren das erste Mal ’ne Woche in Westberlin, laaaange vor der Wende. Billige Ranzwohnung, war auf Dauer von irgend ’ner Band gemietet, die öfters dort tourte. Jeden morgen musste jemand Frühstück holen gehen, also zu zweit ’runter in die Bäckerei und in breitestem Fränggisch angekündigt „Mir braung amoll dreisich Laabla und a weng ann Kuung, und homm sie aa ann gemohlna Kaffee?“ Die Thekenkraft konterte „Meense Schrippen, oder watt?“

      Ja, Großstadtabenteuer der Landjugend. Komischerweise erinnere ich mich von den diversen Berlinabenteuern (wir waren öfters da) fast nur an Obiges und wie ich einmal von Blixa Bargeld kein Bier bekam. Das ist aber ’ne ganz andere Geschichte.

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    3. Doch, doch, sie haben natürlich Recht, Frater Mosses. Kreppel sind Krapfen sind Pfannkuchen und Brötchen oder Semmeln sind Schrippen.

      Ich hätte auch gerne mal kein Bier von Herrn Barged bekommen.

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    4. Ich bin jetzt noch froh, dass ich früher zu feige für Tattoos gewesen bin - ich kann mir in etwa vorstellen, was das geworden wäre. Nicht jeder braucht einen Duscharge-Schriftzug auf dem Oberarm...

      Mein Berlinbesuch "Bauern in der Stadt"-Erlebnis hatte ich erst 1990. Aber Herr Bargeld hat mir auch noch nie ein Bier verkauft.

      Bei uns gab es noch mehr Berliner, die haben eine Affinität zum Allgäu. Der Trachtenverein des Ortes war auch von zugezogenen Berlinern infiltriert.

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    5. Wenn ich dann mal irgendwann als Ex-Berlinerin im Allgäu bzw in Oberbayern leben werde, plane ich auch mich von den dortigen Bräuchen ...passendes Verb fällt mir nicht ein.... zu lassen.


      Inzwischen muss ich hier zum Kommentieren Verkehrsschilder erkennen, die halb hinter Büschen versteckt sind, oder Kleinlastwagen, die man selbst oder nur hierzulande Pickups nennen würde.

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    6. Ich muss mir langsam Sorgen machen, dass die Kontrollfragen interessanter werden als der eigentliche Blog. "Verkehrsschilder hinter Büschen erkennen" wäre genau mein Ding.

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    7. Jetzt habe ich gesehen, dass ich oben anstelle von "Discharge" "Duscharge" geschrieben habe. So geht das nicht weiter hier..

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    8. Und ich hatte schon die wildesten Fantasien über die Sprüche, die Herr Ackerbau sich hätte tätowieren lassen. "Durchsage" war mein Favorit, dicht gefolgt von "Duschvorhang"... Und warum kriege ich nie so tolle Fangfragen beim Kommentieren wie die anderen Kommentatoren??? (die Ermahnung kommt dann bestimmt beim nächsten Post übers Bloggen: "Blogleser haben keinen Anspruch auf interessante Fangfragen vor dem Kommentieren"...)

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    9. "Jetzt kennen wir uns schon so lange, darf ich dich was fragen?" - "Sicher." - "Warum hast du dir eigentlich "Duschvorhang" auf den Hintern tätowieren lassen?" - "Das kann nur verstehen, wer im Unterallgäu aufgewachsen ist."

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    10. (Warum habe ich jetzt total Bock auf eine Blogparade "Verkehrsschilder, die von Büschen verdeckt werden"?)
      WAS STIMMT MIT MIR NICHT?

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    11. Verkehrsschilder die von Duschvorhängen verdeckt werden, wäre die richtige Herausforderung...

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    12. (Ich darf jetzt nicht weiter kommentieren...
      ich darf jetzt nicht weiter kommentieren...
      ich darf jetzt......)

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    13. Ich werde mal Google befragen, ob es in Pankow ein Tätowierstudio To Go für den Herrn Ackerbau gibt und/oder den Liefertätowierer hinschicken.. hehe

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    14. Der nächste ist in der Wollankstraße, in der Invalidenstraße ist natürlich auch einer. Ich würde vorschlagen, wir lassen uns alle Duscharge tätowieren und bilden ein geheimes kriminelles Netzwerk.

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  4. Hach, ist das alles herrlich!mehr solcher Geschichten bitte! Über die Duscharge habe ich auch lange nachgedacht.

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    1. So viel war doch bei uns gar nicht los! Meine Jugend ist jetzt langsam auserzählt.

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    2. Duscharge als Tätowierung hätte mich schwer beeindruckt. Ich dachte bei Arge an das Jobcenter und fand die Kombination dieser beiden Worte sehr rätselhaft.

      Eine schöne Blogparade wäre auch: Denkmäler, die von Büschen verdeckt werden. ich könnte direkt zwei aus meinem näheren Umfeld beisteuern.

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