Everybody's fucked in their own special way

Montag, 23. Dezember 2019

Auf dem Weihnachtsmarkt

W. singt am Samstag das Weihnachtsoratorium in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, wir haben über ihn noch vier Karten bekommen, obwohl über das Internet eigentlich schon ausverkauft ist. 

Wir kommen eine Stunde vor Beginn am Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz an. Vor der Kirche sind Kerzen für die Opfer des Anschlags von vor drei Jahren. Ich denke mir, dass Anschläge auf Weihnachtsmärkte diejenigen sind, vor denen ich weitgehend sicher wäre. 2002-2005 arbeitete ich in einem der wenigen Berliner Hochhäuser und dachte mir immer, dass nach dem 11. September der zu erwartende Anschlag in Berlin eigentlich mein Büro treffen müsste. Little did I know. 

Das Weihnachtsoratorium ist sehr gut, Kantaten 1-3 und 6. 1 und 2 kenne ich ganz gut, die sind auf der ersten CD der Aufnahme, die wir häufiger hören. CD-Hören verdirbt einen zumindest für klassische Musik, weil man sich an einen Standard gewöhnt, der live schwer zu halten ist, aber hier kann der Chor ohne weiteres mit den Aufnahmen mithalten. In der Gedächtniskirche sind etwa 1000 Leute, davon 200 mit Husten und etwa 50, die aus irgendwelchen Gründen hinter uns hin und her rennen müssen. 

Am Ende, nach minutenlangem Applaus, müssen wir erst einmal ein paar Minuten nach dem Rollator von U. forschen, der uns am Anfang des Konzerts abgenommen wurde und der offenbar irgendjemand anders mitgegeben wurde. Schließlich finden sich alle Gehhilfen und wir verlassen die Kirche. W. sehen wir leider nicht mehr. 

Auf dem Weihnachtsmarkt wollen alle noch Glühwein trinken, wir suchen nach einem Stand, der nicht von vornherein sprittig aussieht; bei Berliner Weihnachtsmärkten nicht ganz so einfach. Vor einem Jahr gab es auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz noch Poutine, diesmal leider nicht. 


Wir sind noch auf der Suche, da kommen uns Polizisten mit Maschinenpistolen entgegen, die sagen, dass wir den Weihnachtsmarkt jetzt verlassen sollten. Alle drehen um. Wie Berliner halt so sind, geht jeder weiter, ohne groß zu fragen. Jeder tippt auf seinem Handy herum. Mir ist unwohl, aber ich bin froh, dass alles sehr geordnet abgeht. Wegen der Poller und Absperrungen ist der Markt eng, eine Panik mag man sich nicht vorstellen  Ich bleibe bei U. Wir verlassen den Weihnachtsmarkt, an der Ampel stehen Autos, die Scheiben heruntergedreht. Was denn los sei? - Der Weihnachtsmarkt werde evakuiert. - Gefährlich? - Wer wisse das schon.

Wir gehen zur U-Bahn-Station. Ich versuche über Twitter herauszubekommen, was eigentlich los sei. Die Polizei schreibt, dass der Weihnachtsmarkt wegen verdächtiger Gegenstände geräumt werde. Die Bild-Zeitung weiß, dass zwei Gefährder verhaftet worden seien. Die Twitter-Nazis tun besorgt, aber freuen sich, dass es wieder eine Bedrohung gibt. Die Zeitungen wissen, dass ein Islamist gefasst wurde. Die Bild-Zeitung weiß, dass 10 Anschläge gerade noch verhindert worden sind. Alle rechten Blogs wissen, dass das Weihnachtsoratorium abgebrochen werden musste, dabei wurde die Kantate 6 bis zum Ende gesungen.

Der Heimweg ist schweigsam, an der Osloer Straße hat noch der Gemüsestand geöffnet. Frau Ackerbau nimmt noch einen Brokkoli und einen Blumenkohl mit; Bananen und Avocado gibt es noch dazu. 

Als wir zuhause sind, kann man lesen, dass eigentlich nichts passiert ist. Zwei Menschen, die salafistisch gekleidet gewesen sein sollen, haben den Weihnachtsmarkt schnell verlassen, das kam der Polizei merkwürdig vor. Bei der Überprüfung der Personalien wurde ein Name falsch eingegeben, die Datenbank meldete deswegen zu Unrecht, dass es sich um einen international gesuchten  Gefährder handelte. Die Polizei entschied - zu Recht - dass der Weihnachtsmarkt geräumt werden sollte. Gefunden wurde nichts. Wurde etwas verhindert, hätte etwas passieren können? Wer weiß das schon.

Zuhause musste ich einen Schnaps trinken, obwohl ich das eigentlich seit vielen Jahren nicht mehr tue. Die rechten Blogs haben inzwischen gemerkt, dass eigentlich nichts passiert ist, meinen aber, dass Merkel schuld sei. Sie wurden um ein Spektakel betrogen. Ich wünschte mir, dass sie einmal merkten, was für jämmerliche Würste sie sind.

Ich mag es nicht, wenn Leute mit Maschinenpistolen mir sagen, was ich machen soll. Aber das Leben ist unsicher. Und es wird nicht sicherer werden, weil die Welt so ist, wie sie gerade ist. 

4 Kommentare:

  1. Was für ein Abenteuer und Ihr mitten drin.

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  2. Richtiger Mist ist das: Da freut man sich über ein Konzert, und dann sowas. Und das immer, weil irgendwelche Menschen glauben die Fackel der Wahrheit tragen zu müssen und andere zwingen zu müssen, sie zu sehen. Das war früher nicht anders, immer gab es Menschen mit Drang zur Macht und andere, die sich ihnen anschließen.

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    1. Ich denke oft an Kästner: Seien wir ehrlich: Das Leben ist immer lebensgefährlich.

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