Everybody's fucked in their own special way

Mittwoch, 30. Januar 2019

Romanzen in ungemachten Betten

Letzthin auch einmal das angeschaut, was gerade alle ansehen: Wie richtiges Aufräumen das Leben verändert. Viel ist dazu schon geschrieben worden; mir geht es gar nicht darum, ob die Vorschläge besonders sinnvoll sind oder nicht. Was ich bemerkenswert finde, ist, dass diese Aufräum-Agitation die neueste Ausprägung der Idee ist, ein erfülltes Leben durch irgendwelche einfachen Kniffe zu finden. Die Serie beschreibt eine quasi religiöse Erfahrung; das methodengerechte Aufräumen dient der Sinnstiftung. 

Derlei Anleitungen gibt es viele, Aufräumen ist hier neu. Ansonsten kennt man das aus Anleitungen, nur bestimmte Dinge zu essen, bestimmte Dinge nicht zu essen, besondere körperliche Anstrengungen zu unternehmen etc. 


Als old-school Religiösem fällt es einem bei derlei Dingen nicht schwer festzustellen, dass es sich hier um relativ unterkomplexe säkulare Heilsversprechen handelt. Der Zeit entsprechend liegt der Fokus nicht auf der Seele oder dem Geist, sondern zumeist auf der Arbeit am eigenen Körper oder eben - wie beim Aufräumen - auf dem Verhältnis zum Besitz. Durch die entsprechenden Handlungen wird Sinnstiftung und Freude verheißen. Angenehmer als bei manchen Religionen hat man grundsätzlich selbst in der Hand, man ist nicht auf Gnade obskurer höherer Wesen angewiesen. 

Halte ich das für schlimm? Eigentlich nicht: Als jemand, der selbst irrationalen Glauben pflegt, fühle ich mich nicht berufen, anderen Leuten wegen ihrer anders gearteten Irrationalität eine Nase zu drehen. Soll jeder Hemden falten, wie er will. Manchmal wäre das Bewusstsein, dass man sich hier in einem Ersatz-Glaubenssystem befindet, allerdings ganz nützlich. Und manchmal wundere ich mich, dass so viele Leute nicht wissen, dass das Glück und die Freude sowohl in aufgeräumten als auch in schlampigen Zimmern wohnen können, dass gute Menschen ordentlich, unordentlich, dick, dünn, sportlich, unsportlich sein können und dass es kein Nahrungsmittel gibt, an dessen Verzehr oder Nichtverzehr man feststellen könnte, ob das Gegenüber ein guter oder glücklicher Mensch ist, genauso wie das Besitzen bestimmter Güter, das Hören bestimmter Musik oder das Lesen bestimmter Bücher nichts über die menschlichen Qualitäten aussagt. Das ist doch etwas, was man lernt, wenn man ein paar Jahrzehnte auf der Welt ist? Oder nicht mehr? (Blogspezifischer ausgedrückt: Nur, weil man sein eigenes Gemüse anbaut, kann man trotzdem ein Arsch sein.)

Und sei das Zimmer nun aufgeräumt oder unaufgeräumt: Im Zimmer ist immer man selbst. Und das ist das eigentliche Problem, bei dem einem wohl auch keine freundlichen Ordnungsberaterin oder Netflix-Dokumentationen helfen können. 


*

 

8 Kommentare:

  1. meine neue religion bezieht sich mehr auf schneeschaufeln. das wird mich in ferner zukunft, wenn es taut, sehr glücklich machen. ist eher ein zwangsglaubenssatz. aber das sind viele andere auch.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ich kann mich erinnern, dass ich vor langer Zeit mal gerne Schnee geschaufelt habe. Ist mir inzwischen vollkommen unverständlich.

      Löschen
  2. Meditation bedeutet, bei allem, was man tut, völlig aufmerksam zu sein – beispielsweise darauf zu achten, wie man mit jemandem spricht, wie man geht, wie man denkt, was man denkt.

    Jiddu Krishnamurti

    Also ...ACHTSAMKEIT in der MEDITATION des Schneeschaufelns ... undoder dem Aufräumen bei sich selbst !!!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Achtsamkeit in der Unordnung geht aber auch.

      Löschen
    2. JA ... DAS praktiziere ich täglich, mit höchster Achtsamkeit !!!

      Löschen
  3. Mir graust vor den Leuten die irgendeine lukrative Wahrheit vor sich hertragen. Regeln sind für die wenige Momente im Leben, wo es darauf ankommt, für den Rest genügt Menschenliebe, Geduld und
    Mut zu sich selbst zu stehen.

    AntwortenLöschen
  4. Die ganze Welt gerät aus den Fugen und wir räumen unsere Beitztümer auf.
    Das erinnert mich an den Mann in meinem Haus, der nach dem großen Brand als alles in Schutt und Asche lag seine Schuhe putzen wolte und mich nach einem sauberen Tuch fragte.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Diese Szene bringt mich ja schon fast dazu, meine Meinung zu ändern.

      Löschen